Träume beim Wein

(Christian Holzapfel)

Hvem er det der tramper på min bro?

 

 

      Nach seiner Reise durch die Zeiten saß unser Forscher am Tisch und dachte über alles nach. Vor ihm stand ein Glas mit Wein. Er fing an darüber nachzudenken, wo dieses Glas nun stand. Nicht, daß er das Glas nicht sehen konnte und nicht wüßte, es stünde auf dem Tisch. Aber wenn man tiefer darüber nachdachte, kamen doch so manche Zweifel auf, ob er den Standpunkt des Glases wirklich wüßte. Dazu müßte man etwas über die Begrenzung zwischen Glas und dem umgebenden Raum wissen. Sicher konnte man sagen, hier ist Glas und hier ist Luft, nein Wein, wenn man nicht aufpaßte und die Koordinaten so legte, daß man in das Innere des Glases gelangte, aber immerhin, man konnte sagen, hier ist Glas und dort ist nicht Glas. Aber das auch nur, wenn man weit genug weg war vom Glas. So ganz nahe am Glas und unter einem sehr starken Mikroskop würde man erkennen, daß die Glasoberfläche nicht glatt und eben war, sondern eher aussah, wie eine brodelnde Oberfläche von Kugeln, die in allen Richtungen schwingen, etliche dieser Kugeln oder ganze Gruppen von Kugeln, die sich zu bizarren Gebilden zusammengeschlossen hatten, rissen sich los und huschten über die bewegte Oberfläche oder flogen sogar in den Raum hinaus. Man konnte sehen, wie nicht nur Glasteilchen, sondern auch Luftteile, Sauerstoffmoleküle und Stickstoffmoleküle sich auf der Oberfläche bewegten. Viele Wassermoleküle konnte man erkennen, aber auch viele Teile, die aus dem Wein stammen mußten, bewegten sich dort – obwohl er die Außenseite des Glases betrachtete, so als wären die Bestandteile aus dem Wein über den Rand hinweggekrochen und hätten sich auf der ganzen Glasoberfläche verbreitet.


      Aber er kam vom Thema ab, er wollte in eine etwas andere Richtung denken. Er versuchte, tiefer in die Materie einzudringen und er sah die Atome und deren Kerne und auch die Teile, aus denen die Kerne bestehen. Er konnte sie nur unscharf ausmachen, auch waren sie keine festen Kugeln, sie sahen eher aus wie Wolken, deren Grenzen man nicht fassen konnte. Sie schienen sich in einem Punkt zu konzentrieren und sich gleichzeitig weit in den Raum zu erstrecken. Der Forscher hatte schon von seinen Kollegen gehört, daß man nicht gleichzeitig ihren Ort und ihren Bewegungszustand bestimmen konnte. Versuchte man sie zu fassen bezüglich der einen Bestimmungsgröße, dann wichen sie ins Unbestimmte aus bezüglich der anderen Größe. Sie schienen auch selbst nicht zu wissen, wo sie waren und wohin sie sich bewegten. "Wenn ich nun den Standort meines Glases genau bestimmen will", dachte unser Forscher, "dann muß ich zuerst auch genau wissen, wo sich die Teile befinden, aus denen mein Glas besteht. Ich muß die Teile auch genau abgrenzen können." Und das schien ihm nicht möglich. Man konnte schon erkennen, wo die Teilchen sich hauptsächlich aufhalten, aber sie verschwommen, so daß man letzten Endes keinen Ort angeben konnte, wo sich keine Spur mehr von Teilchen befand, wie bei einer Rauchwolke. Ob diese Unruhe und dieses Verschwimmen durch eine Störung von außen verursacht würde, dachte der Forscher. Er stellte die Weinflasche, die daneben stand, etwas weiter weg. Nichts änderte sich, die Teilchen blieben gleich unruhig und verschwommen, flackerten hin und her ohne feste Konturen wie eine Kerzenflamme. Er räumte alles weg, was sich in der Nähe des Glases befand, Bücher, Korkenzieher, den Hund unter dem Tisch lockte er in die andere Ecke des Zimmers und versuchte, sich selbst soweit wie möglich vom Weinglas fernzuhalten, gerade so, daß er die Teilchen im Inneren der Materie erkennen konnte.


     Jedoch nichts änderte sich. "Vielleicht muß ich noch viel mehr entfernen, wirklich entfernen, nicht nur weiter wegrücken, sondern sozusagen aus der Existenz entfernen. Denn vielleicht waren alle Dinge um das Weinglas verantwortlich für das merkwürdige Verhalten der Teilchen. Vielleicht alle Dinge bis in die weiteste Ferne des Universums. Man müßte also anfangen, große Dinge zu entfernen, etwa die ganze Erde." Aber das ging nicht, das würde sofort auffallen und das Weinglas würde ja auch in die Tiefe stürzen. Also der Mond. Das würde aber auch auffallen. Also mußte er etwas entfernen, dessen Fehlen nicht sofort auffallen würde, etwa einen der nächsten größeren Sterne, zum Beispiel den Sirius im großen Hund; das würde nicht so schnell bemerkt werden. Also versuchte er es mit dem Sirius. Sirius war weg. Aber am Verhalten der Teilchen änderte sich nichts. Natürlich! Sirius war zwar weg jetzt, aber das Weinglas würde das ja erst nach neun Jahren merken. So lange würde es dauern, bis das Verschwinden des Sternes sich hier auf der Erde bemerkbar machte. Er blickte hinaus in den Nachthimmel und sah den Sirius strahlend am Himmel stehen, obwohl er ihn gerade entfernt hatte. Er würde noch neun Jahre lang weiter strahlen, solange war da Licht noch unterwegs. Also mußte er den Stern so entfernen, daß er nie dagewesen war. Nun sah er auch, daß der Stern tatsächlich fehlte. Hoffentlich würde das nicht auffallen und zu großer Unruhe führen. Aber nein, der Stern war ja nie dagewesen - also konnte es auch nicht auffallen. Der Forscher wandte sich wieder dem Glas zu und beobachtete die Teilchen im Glasgefüge genau. Er meinte, eine ganz leichte Beruhigung zu bemerken. Die Teilchen waren unmerklich deutlicher geworden. Ermutigt durch den Erfolg entfernte der Forscher noch weitere Sterne, den Polarstern, den Großen Bären, den Andromedanebel, die halbe Milchstraße. Und er sah, wie sich die Teilchen immer mehr beruhigten.


     Aber nun geschah etwas Anderes, etwas noch Merkwürdigeres. Das Glas war irgendwie dünner geworden, weniger, durchsichtiger und luftiger, es war weniger existent. Er fühlte sich auch selbst leichter, als wäre er selbst weniger geworden. Je mehr Sterne er verschwinden ließ, desto mehr löste sich seine nächste Umgebung auf, das Glas, die Bücher, der Hund, der in der Ecke schlief, alles war zarter und flüchtiger. Auch er selbst fing an sich aufzulösen in Nichts.

 

     Und er erkannte, wie die Existenz alles Seienden voneinander abhing. Kein Stern, kein Atom im Weltall konnte ohne alle anderen Himmelskörper existieren. Vernichtete er nur eines der entferntesten Atome im All, dann vernichtete er gleichzeitig einen Teil von sich selbst. So hing die Materie im Universum zusammen. Die Existenz jedes Steines, jedes Baumes, ja jedes Lebewesens war nur die Existenz aller anderen Dinge und Lebewesen im All.

 

     Unser Forscher beeilte sich, die Sterne und Planeten, die er entfernt hatte, wieder auf ihre Plätze zurückzusetzen, in die Existenz zurückzuholen. Seine Umgebung kehrte auch wieder in die volle Existenz zurück. Kein Mensch hatte das Experiment bemerkt, nur einige hatten so etwas wie Schwindel gefühlt, oder sie hatten geträumt, daß sie fliegen konnten. Manche hatten eine unbestimmte Sehnsucht verspürt, als fehlte ihnen etwas. Aber keiner konnte erklären, was geschehen war, auch schon deshalb nicht, weil keiner, der etwas gemerkt hatte, vom Erlebnis des Nachbarn wußte. Er erinnerte sich, schon etwas Ähnliches erlebt zu haben. Etwas, was jedoch mit seinem Leben, seiner Seele zu tun gehabt hatte. Und er wußte plötzlich, woher die große Traurigkeit, die Leere in seinem Inneren kam, als er damals seinen Vater zu Grabe tragen mußte - es war etwas von ihm selbst verschwunden.


     Er erkannte die Leere, die übrig blieb - bei den Eltern, die ihre Kinder verloren hatten, bei den Müttern der Soldatensöhne, die für eine nichtige Sache gefallen waren, bei den Menschen, die ihren Lebenspartner verloren hatten, bei dem Kind, dessen Katze gestorben war, bei all den Trauernden und Weinenden - es war immer ein Stück ihres eigenen Lebens gestorben, unwiederbringlich verloren.

 

    Aber unser Forscher wußte nun wie alles zusammenhing, wie Sein und Leben jedes Einzelnen vom Sein und Leben aller Anderen abhing. Sein eigenes Leben, seine Seele, sein Bewußtsein war nur das Leben aller anderen Geschöpfe. Vernichtete er nur das geringste Insekt, dann vernichtete er zugleich einen Teil seines eigenen Lebens. Jedesmal, wenn ein Geschöpf starb, ein Stück Leben verschwand, starb auch ein Teil von ihm selbst, und jedesmal, wenn irgendwo Leben gezeugt wurde, wurde auch sein eigenes Leben reicher. So war auch, was er als Leben empfand, nur etwas Fließendes, abhängig vom Sein und Leben rings um ihn. Und er empfand eine tiefe Ehrfurcht vor dem Sein.

 

(Februar 1989)